Sonntag, 12. Dezember 2010

Offener Brief

12. Dezember 2010
Sehr geehrte Frau Vollmer,

dann sterben sie uns weg - ist das nun das Motto? Da beschäftigt sich der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages zwei Jahre lang mit dem Schicksal ehemaliger Heimkinder in den 1950er-, 1960er- und 1970-er Jahren, dann wird ein Runder Tisch eingerichtet, Sie übernehmen den Vorsitz.

Sofort haben Sie mir einen Brief geschrieben, baten mich um Mithilfe und um Informationen. Habe ich getan. Ich lieferte Ihnen Berichte. Die Mitglieder des Runden Tisches bereisten die "schlimmsten Heime", Städte und Organisationen richteten Hotlines und Internet-Seiten ein, sogar wissenschaftliche Untersuchungen wurden in Auftrag gegeben, so manche Einrichtung ging in Sack und Asche.

Und nun? Eingerichtet werden soll ein Entschädigungsfonds in Höhe von 120 Millionen Euro. Die Kosten teilen sich der Bund, die Länder und die Kirchen. Geld bekommen die Opfer aber nur nach einer Einzelfallprüfung.

Dafür sind insgesamt vier Jahre nötig gewesen? Das hätte man doch in einem Monat schaffen können! Dennoch zeigen Sie sich zufrieden und sagen laut dpa: "Ein einstimmiges Ergebnis ist immer gut."

Immer? In diesem Fall doch wohl nicht. Viele Opfer der Heimerziehung in schlimmen Zeiten sind bereits so alt, dass ihnen sicherlich die Kraft für bürokratische Auseinandersetzungen fehlt. Die schauen deswegen in die Röhre? Oder sollen solche Opfer jetzt Anwälte beschäftigen, die das kassieren, was eigentlich ehemaligen Heimkindern zusteht?

Und am  Ende steht immer die Verhöhnung von Menschen, denen man schon als Kind keine Chance gelassen hat? Ist das jetzt auch "grüne Politik"?

Wenn ich gewusst hätte, dass solch ein Ergebnis als "gutes Ergebnis" verkauft wird, hätte ich keine einzige Zeile an Sie geschrieben. Bei so was hätte ich nie mitgewirkt. Wieder wird es den Tätern leicht und den Opfern schwer gemacht.

Was für eine Schande!

Donnerstag, 1. April 2010

Heimkinderseite in Hannover

1. April 2010
Stadt schaltet ein Internetforum frei

Jahrzehnte lang war das Schicksal von Kindern und Jugendlichen, die in den 50er und 60er Jahren in Heimen gelebt haben, kein Thema öffentlichen Interesses. Ihr Schicksal war weitgehend unbeachtet; über die Verhältnisse - auch in kommunalen - Einrichtungen ist bis heute wenig bekannt.

Seit einigen Jahren fordern ehemalige HeimbewohnerInnen Gehör. Sie klagen Missstände der Fürsorgeerziehung in dieser Zeit an, berichten von missbräuchlichen Erziehungsmethoden und entwürdigenden Bestrafungen, unter denen viele der in den Heimen untergebrachten 14- bis 21-jährigen "Zöglinge" gelitten haben.

Auch die Stadt Hannover beteiligt sich als früherer Träger von fünf Einrichtungen an einer Aufarbeitung und gibt den Betroffenen Gelegenheit, sich zu artikulieren und mitzuwirken. Auf der Grundlage eines Ratsbeschlusses vom Juni 2009 hat dazu der Heimverbund im Fachbereich Jugend- und Familie ein entsprechendes Konzept vorgelegt.

"Ziel unserer Maßnahmen ist, diejenigen unbürokratisch zu unterstützen, die ihre Kindheit oder Jugend in einem der städtischen oder der Heime im Stadtgebiet beziehungsweise Umland verbracht haben", erläutert Jugend- und Sozialdezernent Thomas Walter. "Wir wollen ihnen helfen, ihre Vergangenheit zu verstehen, Fragen zu stellen, Erfahrungen, Erlebnisse und Probleme zu äußern." Mittelbar erhofft sich Walter von diesen "Zeitzeugenberichten" auch Einblicke in die Strukturen, Lebensverhältnisse und pädagogischen Ausrichtungen der Einrichtungen.

Der direkte Kontakt für und mit den Betroffenen steht für Walter an erster Stelle: "Ab Dienstag (6. April) können sich Betroffene an unsere Telefon-Hotline wenden. Unter der Nummer 0800-85 08 508 stehen erfahrene psychologische oder pädagogische Fachkräfte als persönliche AnsprechpartnerInnen unter Schweigepflicht zur Verfügung - montags bis freitags von 10 bis 20 Uhr."

Viele ehemalige Heimkinder wollen herausfinden, warum sie damals im Heim untergebracht worden sind und wer für die Unterbringung verantwortlich war. Von zentraler Bedeutung ist für die Betroffenen, die Originalunterlagen einsehen zu können. Wenn dieser Wunsch nach Akteneinsicht für die städtischen Heime besteht, stellen die GesprächspartnerInnen der Hotline den Kontakt zum zuständigen Kommunalen Sozialdienst her.

Die Stadt Hannover hat in den 50er und 60er Jahren auch eigene Einrichtungen betrieben, in denen Säuglinge und Kinder ausschließlich aus Hannover untergebracht waren: Kinderheim Mecklenheide (betrieben bis 1965) Kinderheim Nordstern (bis 1994), Kinderheim Isernhagen (bis 1977), Kinderheim Gut Lohne (bis 1965), Rohdenhof (bis in die 90er Jahre, dann Fortführung in Wohngruppen).

Die Unterbringung erfolgte hier nach der so genannten "Einfachen Heimerziehung". Wer hier nicht mehr betreut werden konnte, kam in eine Einrichtung der "Freiwillige Erziehungshilfe" (FEH) auf Antrag der Eltern und in Verantwortung der Fürsorgeerziehungsbehörden (ehemalige Landesjugendämter) oder der "Fürsorgeerziehung" (FE) durch Beschluss eines Vormundschaftsgerichts, ebenfalls in Verantwortung der ehemaligen Landesjugendämter. In Hannover gehörten dazu zum Beispiel das Stephanstift und der Birkenhof.

Betroffene aus diesen und anderen Einrichtungen im Stadtgebiet und näherem Umland bekommen unter der städtischen Hotline Hinweise, an wen sie sich wenden können.

Ansprechadressen und Links, Beschreibungen der städtischen Heime sowie Hinweise auf Aktivitäten der Stadt, anderer hannoverscher Einrichtungsträger und des Landes Niedersachen enthält die Internetseite www.heimkinder-hannover.de. Sie ist ab sofort freigeschaltet.

Sonntag, 21. März 2010

Eigene Gedanken

4. Januar 2010
Ehemalige Heimkinder planen Demo: "Wir wollen uns nicht länger veralbern lassen"

15. April: Der vom Bundestag eingesetzte Runde Tisch trifft sich zur siebten Sitzung, 21 Vertreter der Bundesländer, Kirchen, Sozialeinrichtungen und ehemalige Heimkinder beschäftigen sich erneut mit der Heimerziehung in den 50er, 60er und 70er Jahren. Den Vorsitz führt Antje Vollmer, Politikerin der Grünen und von 1994 bis 2005 Bundestagsvizepräsidentin. Ende 2009 hat die 66-Jährige Zwischenbilanz gezogen. Sie lobte das „Wir-Gefühl“ am Runden Tisch, alle seien „wie auf Zehenspitzen“ in die Gespräche gegangen.


Das änderte sich vorübergehend, als der Verein ehemaliger Heimkinder im Frühjahr vorigen Jahres seine Führung komplett auswechselte, Anwälte forderten einen Entschädigungsfonds in Höhe von 25 Milliarden Euro. Antje Vollmer aber ließ die neuen Vertreter der Heimkinder nicht zu. Auch die Anwälte durften am Runden Tisch nicht Platz nehmen.

„Die Zeit des Stillhaltens ist vorbei“, heißt es jetzt in einer Demo-Ankündigung, die vom Verein ehemaliger Heimkinder unterstützt wird. Deshalb werde man am 15. April auf die Berliner Straßen gehen: „Wir lassen uns nicht länger veralbern.“ Gefordert werden sollen bei dieser Demonstration Entschuldigungen, Entschädigungen, Schmerzensgeld, auch die Kosten für medizinische und psychologische Behandlungen sollen übernommen werden.

Der evangelischen und der katholischen Kirche, staatlichen Trägern von Kinderheimen und den Aufsichtsbehörden werden in dieser Pressemitteilung schwere Vorwürfe gemacht: „Wir klagen an, weil wir geschlagen wurden, weil wir zwangsgefüttert wurden, weil wir sexuell missbraucht wurden, weil wir gefoltert wurden.“ Heimkinder seien in den 50er, 60er und 70er Jahren in dunklen Kellern eingesperrt worden.

Forscher der Ruhr-Universität schätzen die Zahl der Betroffenen auf 500 000. Nicht alle ziehen am gleichen Strang. Viele ehemalige Heimkinder wollen mit ihrer Vergangenheit nicht mehr konfrontiert werden, sie sagen: „Was man uns angetan hat, kann niemand wieder gut machen.“ Andere meinen, dass der Runde Tisch zu langsam arbeite.

Dagegen wehrt sich Antje Vollmer Sorgfalt gehe vor Schnelligkeit. Ein Jahr dauert inzwischen die Aufarbeitung, immer mehr tritt zutage. Heimkinder, die über Misshandlungen, Missbrauch und Demütigungen auch noch in den 80er Jahren berichten, kommen gar nicht zu Wort. Das gehöre nicht zum Auftrag des Runden Tisches, sagt Antje Vollmer, außerdem habe man schon jetzt die Grenze der Belastbarkeit erreicht.

5. Oktober 2009
Hannover: Gesprächskreis beschließt Forschungsauftrag

Schläge, Demütigungen und perverse Strafen - unzählige Kinder haben in der Nachkriegszeit in kirchlichen und staatlichen Heimen bis an die Grenze des Erträglichen gelitten. Damit beschäftigt sich nicht nur ein Runder Tisch des Deutschen Bundestages, damit beschäftigt sich auch ein Gesprächsarbeitskreis „Heimerziehung 1945 bis 1975“ im niedersächsischen Sozialministerium. Heute hat es erneut im Ministerium ein Treffen ehemaliger Heimkinder, der kommunalen Spitzenverbände, der Landesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege, des Caritasverbandes Osnabrück, des Diakonischen Werkes, des Landesarchivs und des Landessozialamtes gegeben.

„Alle Betroffenen benötigen Einsicht in noch vorhandene Akten der staatlichen und freien Heimträger, um ihre ganz persönlichen Heimbiographien aufarbeiten zu können“, sagte Sozialministerin Mechthild Ross-Luttmann. Niedersachsen sei bei der Aktensicherung staatlicher Einrichtungen weiter als andere Bundesländer. So habe das Landesarchiv alle sieben Staatsarchive eingeschaltet, außerdem gebe es Vorermittlungen in allen 79 Amtsgerichten des Landes. Das Justizministerium verhindere die Vernichtung von noch vorhandenen Akten.

Der Präsident des Niedersächsischen Landesarchivs, Dr. Bernd Kappelhoff, berichtete in der heutigen Sitzung über die Zusammenführung der Aktenbestände aus den ehemaligen Bezirksregierungen und Landesjugendämtern mit den Beständen der vormundschaftsgerichtlichen Akten. Sie sei nahezu abgeschlossen. Den Betroffenen werde ein unbürokratischer Zugang zu ihren Akten ermöglicht.

Der Gesprächsarbeitskreis verabschiedete einen Forschungsauftrag, die Themen: die damaligen Trägerstrukturen, die Einrichtungen in jener Zeit, Unterbringung und Aufsicht, Beschwerden und besondere Vorkommnisse, die Verantwortung des Landes für die Fürsorgeerziehung, die Entwicklung der Heimaufsicht und des Landesjugendheims Göttingen, Entscheidungen der Gerichte und das Verhalten staatlicher Stellen unterhalb der Landesebene.

Für Fragen zum Rentenversicherungsrecht und zu Entschädigungen dagegen ist der Runde Tisch des Deutschen Bundestages zuständig. Anfang nächsten Jahres soll ein Zwischenbericht vorgelegt werden.

Das Schicksal vieler ehemaliger Heimkinder jedoch werden weder der Gesprächsarbeitskreis im niedersächsischen Sozialministerium noch der Runde Tisch des Deutschen Bundestages aufklären können. Groß ist die Zahl derjenigen, die sagen: „Was uns damals angetan worden ist, kann niemand mehr gut machen.“ Allzu oft hätten sie erlebt, dass ihre Schilderungen mit dem Hinweis abgetan worden seien: „Das bilden Sie sich alles nur ein.“

Auch in Holzen bei Holzminden hat es ein Kinderheim gegeben. Was dort geschah, verschlug mir bei den Recherchen fast die Sprache. Leserinnen und Leser meiner Broschüre „Zwei Fälle für Kommissar Internet: Holzen und Dalheim“ wird es wohl nicht anders ergehen. Lokalzeitungen haben bis heute diese Broschüre mit keinem Wort erwähnt.

Bleibt die Frage: Wie rückhaltlos wird die Aufklärung?

18. Juni 2009
Niedersächsische Sozialministerin hört erschütternde Berichte

Hannover (tj). Im Herbst vorigen Jahres hat das niedersächsische Sozialministerium eine Hotline für ehemalige Heimkinder geschaltet, über 100 Betroffene riefen an oder schrieben Briefe, schilderten ihre Erfahrungen. Die waren erschütternd. Das sagte Sozialministerin Mechthild Ross-Luttmann vor dem Landtag in Hannover. Das Parlament beschäftigte sich in zweiter Beratung mit diesem Thema.

Die Ministerin wies darauf hin, dass die Anruferinnen und Anrufer über „Demütigungen und Gewalt“ berichtet hätten, und fügte hinzu: „Viele haben versucht, die traumatischen Erlebnisse zu verdrängen. Als gut und entlastend wurde empfunden, dass endlich über dieses Leid öffentlich gesprochen wird.“

Die Betroffenen hätten aber nicht nur von ihren Erlebnissen erzählt, sie hätten auch Forderungen gestellt. Akteneinsicht gehöre dazu, Entschädigungen, Nachzahlungen in die Rentenkasse und die historische Aufarbeitung. Zur Akteneinsicht sagte Mechthild Ross-Luttmann: „Alle betroffenen Institutionen in Niedersachsen werden dem nachkommen.“

In diesem Zusammenhang erwähnte die Ministerin ein Fachgespräch, das sie am 8. Juni mit den beiden großen christlichen Kirchen, Behörden, Gerichten und Kommunen geführt habe. Ein weiteres Ergebnis dieses Treffens: „Die großen diakonischen Einrichtungen zum Beispiel stellen sich mit dem Angebot psychologischer, sozialer und seelsorgerischer Beratung ihrer Verantwortung für das Schicksal ehemaliger Heimkinder.“

Für andere Probleme könne nur eine bundesweite Lösung angestrebt werden. Die Ministerin abschließend: „Vor Ort aber, hier in Niedersachsen, müssen wir das machen, was den Betroffenen konkret hilft. Und dazu treffen wir uns mit den Beteiligten seit längerem. Diesen von mir begonnenen Dialog werde ich fortsetzen."

17. März 2009
Runder Tisch und ehemalige Heimkinder: Zeitfenster wird 1979 geschlossen

Dr. Antje Vollmer, von 1994 bis 2005 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Politikerin von Bündnis 90/Die Grünen, seit 4. Dezember 2008 Moderatorin des Runden Tisches, der sich auf Beschluss des Deutschen Bundestages mit dem Schicksal ehemaliger Heimkinder in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren beschäftigt, darf das Zeitfenster nicht weiter öffnen als vom Petitionsausschuss gewollt. Die Folge: Viele ehemalige Heimkinder werden nicht gesehen. Eigentlich aber müsste der Runde Tisch auch den Blick richten auf Misshandlungen in den 1980er-Jahren. Wird aber nicht geschehen. Das Motto lautet: Ab 1980 Augen zu!

Der nächste Skandal beginnt. Die 65-Jährige nimmt ihn zur Kenntnis, sie schreibt an den Wilhelmshavener Redakteur Heinz-Peter Tjaden, der sich seit über einem Jahr mit diesem Thema beschäftigt: „Ihre Anregung, das Thema des Runden Tisches auszuweiten (auf die Zeit der 80er Jahre) ist sehr verständlich und wichtig.“ Klingt erst einmal gut. Aber dann fügt Antje Vollmer hinzu: „Nur leider ist das Thema vom Petitionsausschuss so vorgegeben worden.“ Heißt: Das Zeitfenster wird 1950 geöffnet und 1979 geschlossen.

Ausgeblendete Themen sind also auch ein Kinderheim in Diemerstein (Landkreis Kaiserslautern) und ein Internat, das es bis 1987 im Schloss Eringerfeld gegeben hat. Michael Jäger, Schauspieler, Moderator und Autor aus München, ist dort gewesen. Er berichtet: „Im Heim bin ich körperlich misshandelt worden, im Internat wurde ich sexuell missbraucht.“ Diese Erlebnisse hat der 42-Jährige nicht verdaut: „Ich habe immer noch damit zu kämpfen, was man mir angetan hat.“ Nachlesen kann man das im Internet.

Für Michael Jäger kommt es am Runden Tisch so, wie er es erwartet hat. Seine Leidensgenossen und er werden vermutlich ebenfalls Jahrzehnte warten müssen, bis jemand öffentlich ihre Schicksale aufarbeitet.

Antje Vollmer bittet dafür um Verständnis, denn: „Schon jetzt erreicht uns eine solche Flut von Zuschriften und Anregungen, dass wir ein weiter gestecktes Thema nicht bewältigen könnten.“

20. Februar 2009
Ab ins Heim und dann zur Pornoindustrie?

Mit den schlimmen Zuständen, die es in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren in vielen Kinderheimen gegeben hat, beschäftigt sich zurzeit ein Runder Tisch unter Vorsitz von Antje Vollmer. Eingesetzt worden ist er vom Deutschen Bundestag. Warum mit der Aufarbeitung der Heimgeschichte so lange gewartet wurde, ist ein Rätsel, denn was in einigen Heimen los war, wusste die Öffentlichkeit auch schon vor 40 Jahren. Viele hörten allerdings einfach nicht zu, taub stellten sich auch die Kirchen als Trägerinnen solcher Einrichtungen. Nicht einmal ein Roman, der vor 30 Jahren verfilmt wurde, änderte daran etwas.

Auch heute sind wieder Vorwürfe an Jugendämter, Familiengerichte und Kinderheime an der Tagesordnung. Wer darüber schreibt, muss aufpassen. Die Behörden verweigern meistens jede Mitarbeit bei Recherchen, die Betroffenen stellen oft genug Vermutungen an, die einer Überprüfung nicht standhalten. Darunter leiden alle, die wirklich Schlimmes erleben.

Ein Beispiel für Geschichten, die aktuell im Internet kursieren, sieht so aus (mail-Betreff "Heime und Porno": Kinderheime arbeiten mit der Pornoindustrie zusammen. So soll es eine Mutter geben, deren Töchter in einem Heim leben. Eines Tages trifft sie Bekannte, die ihr mitteilen: „Wir haben Nacktfotos von deinen Töchtern im Netz gefunden.“ Das erzählt sie einem Dritten, der mit Recherchen beginnen will.

Das soll wahr sein? Wenn dem so wäre, warum hat sich dann diese Mutter bei ihren Bekannten nicht sofort erkundigt, wo diese Bilder im Internet versteckt sind? Und warum ist sie nicht anschließend zur Polizei gegangen? Welche Mutter würde das nicht tun?

15. Januar 2009
Was hat "Röschen" Albrecht da Ursula von der Leyen eingebrockt?

Mitglieder des Petitionsausschusses kritisieren die Bundesfamilienministerin, ehemalige Heimkinder fordern im Internet den Rücktritt von Ursula von der Leyen. Die 50-Jährige hat sich mit ihren Äußerungen zu den Themen „Runder Tisch“ und „Misshandlungen in kirchlichen und staatlichen Kinderheimen“ gehörig in die sozialpolitischen Nesseln gesetzt.

Doch das ist nicht weiter verwunderlich, denn Politik hat „Röschen“ Albrecht schon als Kind unter dem Schreibtisch ihres Vaters spielend gelernt. Dann wurde aus dem „Röschen“ eine Rose - und die sind bekanntlich stachelig.

Wie aus dem Nichts tauchte Ursula von der Leyen aus einem Dorf in der Region Hannover auf, eroberte als Landtagskandidatin der CDU mühelos ihren Wahlkreis, machte Landespolitik und schnell Bundespolitik. Dabei hatte sie den Blick fast schon starr gerichtet auf: die Mittel- und Oberschicht.

Die da unten sah sie nur selten. In dieser Hinsicht glich sie öffentlich eher ihrem Vater als ihrer Mutter, die ohne viel Aufhebens soziale Einrichtungen unterstützte, geduldig an der Supermarktkasse in Burgdorf bei Hannover stand und sich nach dem Einkauf um MS-Kranke kümmerte.

Ob die Bundesfamilienministerin gestern in Burgdorf vor dem Fernseher gesessen und die Sendung „Menschen und Schlagzeilen“ gesehen hat, ist fraglich. Denn Schlagzeilen machte im NDR-Fernsehen nicht sie, sondern die evangelische Landesbischöfin von Hannover, Margot Käßmann, die um schlimme Zustände in kirchlichen Heimen in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren nicht herumredete. Sie schäme sich dafür, sagte die Landesbischöfin, und: „Kinder wurden wirklich auch gebrochen.“

Doch derart gebrochen sind nicht alle ehemaligen Heimkinder, dass sie sich nicht wehren können, wenn Ursula von der Leyen die Aufarbeitung der Kinderheim-Geschichte torpedieren will, bevor sie begonnen hat. Aber vielleicht läuft es ja bei ihr wie bei der CDU heute bei den Stasi-Akten. Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich erfreut darüber, dass diese Akten nicht vernichtet worden sind. Genau das aber hatten Helmut Kohl und Wolfgang Schäuble dermaleinst vor…

12. Januar 2009
Wie eiskalt ist Ursula von der Leyen?

Wie eiskalt ist die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen? Diese Fragen muss die 50-Jährige überhört haben: „Warum hat man mir das angetan? Warum wurde ich 17 Jahre lang eingesperrt?“ Gestellt wurden sie am 4. Dezember 2008 von einem ehemaligen Heimkind während einer öffentlichen Sitzung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages. Bundestagspräsident Norbert Lammert teilte bei dieser Gelegenheit mit, dass ein Runder Tisch gebildet werde, bei der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Dr. Antje Vollmer sollten alle Fäden zusammenlaufen. Dazu sagte Lammert: „Das ist eine schwierige Aufgabe.“

Dass sie noch schwerer wird als gedacht, dafür sorgt jetzt die Bundesfamilienministerin. In einem Brief an Berlins Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) soll sie laut „taz“ geschrieben haben: „Die Einrichtung eines nationalen Entschädigungsfonds wird von Bundestag und Bundesregierung nicht angestrebt.“ Vorher verlautete bereits aus dem Ministerium, dass der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge die Organisation des Runden Tisches übernehme.

Dagegen protestierte sogleich der Verein ehemalige Heimkinder in einer Presseerklärung vom 9. Januar 2009, denn: „Der
deutsche Verein war in besonderer Weise verstrickt in die pädagogische Theorie und Praxis der Heimerziehung des Nationalsozialismus sowie der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland. Erst in den 90er Jahren wurde bekannt, dass sein jahrzehntelang hoch in Ehren gehaltener ehemaliger
Vorsitzender, Herr Muthesius, im Dritten Reich als Referent für die zentrale Verwaltung der Jugendkonzentrationslager in Moringen, der Uckermark sowie in Litzmannstadt zuständig war.“

Sie wolle den Betroffenen „mit offenen Ohren“ zuhören, hat Antje Vollmer am 15. Dezember 2008 dem Wilhelmshavener Redakteur Heinz-Peter Tjaden versichert. Der 59-Jährige beschäftigt sich seit über einem Jahr mit dem Schicksal ehemaliger Heimkinder, die in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren in Heimen gequält, misshandelt und ausgebeutet worden sind. Weiter schrieb die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin an Tjaden: „Die Arbeit des Runden Tisches wird beginnen, sobald alle Institutionen, die daran teilnehmen werden, ihre Vertreter benannt haben. Ich hoffe, dass das recht früh im Jahre 2009 möglich sein wird.“

Darauf warten ehemalige Heimkinder schon seit Jahren. Mit dem Störfeuer aus dem Bundesfamilienministerium wird diese Wartezeit weiter verlängert.

Samstag, 20. März 2010

Pestalozzistiftung Burgwedel

16. März 2010
Angst als ständiger Begleiter

"Wir sind eine rechtsfähige Stiftung bürgerlichen Rechts und eine kirchliche Stiftung und Mitglied im Diakonischen Werk. Seit 1846 sind wir in der Region Hannover tätig.

Wir bieten soziale Dienstleistungen in der Jugend- und Behindertenhilfe an und sind Träger von allgemein- und berufsbildenden Schulen.

Wir sehen unsere Aufgabe darin, kleine und große Menschen selbstständiger und selbstbewusster zu machen. Unsere Angebote gelten auch schwachen und schwierigen Menschen." So stellt sich die Pestalozzistiftung aus Burgwedel im Internet vor.

"Ich habe mir manchmal vorgenommen, nicht weiter zu leben", sagt Michael B. Er hat die Jahre 1978 bis 1982 in einem Heim der Burgwedeler Pestalozzistiftung verbracht. Immer in Angst, erzählt der 43-Jährige. Denn: "Der Heimleiter war fast zwei Meter groß und hatte Hände wie Schaufeln." Hände für Prügel. Die Michael B. nach seinen Angaben oft bekommen hat.

Der 43-Jährige: "Doch die ertrug ich als Kind und als Jugendlicher. Weil ich noch mehr Angst vor sexuellem Missbrauch hatte." Immer wieder habe ihm der Heimleiter nachgestellt. Dann sei er geflohen, erst nachts zurückgekehrt: "So konnte ich mich dem entziehen, ich bekam  dann natürlich wieder Schläge."

Diese Erinnerungen nagen an dem ehemaligen Heimkind: "Es ist ein Wechselbad der Gefühle, das mich viel Kraft kostet." Die hole er sich bei einer ambulanten Behandlung zurück. Michael B. war in drei Heimen. Überall habe er Gewalt erlebt: "Nach meiner Entlassung habe ich einen Selbstmordversuch unternommen."

Burgwedel ist eine Bilderbuchstadt bei Hannover, 22 000 Einwohnerinnen und Einwohner, viele betucht, sieben Ortschaften - und ebenfalls Schauplatz von Misshandlungen, mit denen sich seit über einem Jahr ein Runder Tisch des Deutschen Bundestages unter Vorsitz von Antje Vollmer beschäftigt, der die Geschichte der Kinderheime in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren aufarbeitet - und nach Auskunft der Vorsitzenden von so viel Leid erfährt, dass gelegentlich die Möglichkeiten dieses Gremiums erschöpft sind?

Darauf gibt es bislang keine Antwort. Die Pestalozzistiftung hüllt sich in Schweigen.

19. März 2010
Ausführliche Antwort

Heute hat mir die Pestalozzistiftung geantwortet. Bericht folgt.
















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Pestalozzi-Stiftung II

20. März 2010
Offener Umgang mit der Vergangenheit

"Wir sind überzeugt, dass wir heute eine nicht nur öffentlich anerkannte und professionelle  Jugendhilfe bieten, sondern auch eine ganze Menge vorbildlich machen", sagt Pastor Andreas Seifert, seit Sommer 1984 Vorstand der Pestalozzi-Stiftung in Burgwedel und in drei Monaten im Ruhestand. Auf diese Arbeit dürfe kein "schiefes Licht" fallen, deshalb müsse mit der Vergangenheit offen umgegangen werden.

Zu dieser Vergangenheit gehören die in diesem blog geschilderten Erfahrungen von Michael B., der von 1978 bis 1982 im Wichernhaus der Pestalozzi-Stiftung gelebt hat, von Schlägen berichtet und von sexuellen Annäherungsversuchen des damaligen Heimleiters. Andreas Seifert erinnert sich: "Diesen Heimleiter habe ich noch kennengelernt und dann bald wegen verschiedener Verfehlungen  entlassen." Bei diesen Verfehlungen sei es allerdings nicht um versuchten sexuellen Missbrauch gegangen. Vielmehr habe der damalige Heimleiter mit den Jugendlichen aus seiner Gruppe unter einer Decke gesteckt, die Polizei fand in seinem Zimmer Diebesgut.

Um die 30 Ehemalige haben sich Andreas Seifert zufolge in den vergangenen beiden Jahren bei der Pestalozzi-Stiftung in Burgwedel gemeldet: "Den meisten lag nur an der Akteneinsicht." Sechs Ehemalige hätten Vorwürfe erhoben, Michael B. sei der Siebte. "Darüber hinaus haben wir von drei ehemaligen Mitarbeiterinnen Berichte mit Vorwürfen erhalten, die die Berichte der ehemaligen Kinder und Jugendlichen übertreffen", so Andreas Seifert, der hinzufügt: "Alle Vorwürfe beziehen sich auf Schläge und Strafen und auf erniedrigende und entwürdigende pädagogische Maßnahmen."

Dennoch wolle er keine Zweifel an den Schilderungen von Michael B. anmelden: "Was er berichtet, haben wir mit Betroffenheit zur Kenntnis genommen. Es gibt keine Veranlassung, diese Aussagen zu bestreiten oder zu relativieren."

Das tue man auch bei den gegenwärtigen Untersuchungen des Diakonischen Werkes zur Geschichte der Heimerziehung von 1945 bis 1978 nicht: "In diesen Tagen wird ein Zwischenbericht vorgelegt. Weil wir über ein gutes Archiv verfügen, werden viele negative Beispiele aus unserer Stiftung erwähnt sein."

Keinesfalls als Kompliment wertet Andreas Seifert diese Feststellung eines Ehemaligen: "Ich war in drei Heimen. Bei Ihnen zuerst. Da war es noch am wenigstens schlimm." Und für Michael B. gelte: "Wir würden uns freuen, von ihm noch direkt zu hören."

Donnerstag, 18. Februar 2010

Das Schicksal der Sylvia K.

30. Januar 2010
"Sozialisiert wie ein südeuropäischer Straßenköter, der um Gnade bittet"

„Mal verdiente ich gut, mal krebste ich herum“, beschreibt Sylvia K. (Name geändert) ihr bisheriges Leben, Stadtplanerin sei sie gewesen, TV-Autorin, sie habe die Welt gesehen und immer eins gefürchtet: den Verlust ihrer Freiheit. Denn: Sozialisiert worden sei sie wie „ein südeuropäischer Straßenköter - ohne die Hunde herunterputzen zu wollen“ in einem Kinderheim in Nordhessen. Welche Folgen diese Heimerziehung habe, das wolle sie erzählen. Sylvia K. lebt im Ausland, nach Deutschland zurückkehren will sie nicht.

Der Bundestag hat einen Runden Tisch eingerichtet, an dem das Schicksal von Heimkindern in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren aufgearbeitet werden soll. Wie haben Sie von diesem Runden Tisch erfahren?

Sylvia K.: Kürzlich habe ich im Radio auf WDR 5 eine Sendung gehört. Berichtet wurde, dass die Gewalt gegen Heimkinder thematisiert wird. Auch mein Bruder und ich wurden Opfer ausufernder Gewalt. Obwohl aus Bremerhaven, brachte man uns ins entfernte Nordhessen. In den folgenden Jahren sahen wir unsere Eltern nur noch einmal im Jahr, und zwar abwechselnd unseren Vater und unsere Mutter. Der Ort hieß Vöhl, es war ein Kinderheim der AWO.

Wie andere Heimkinder auch, haben Ihr Bruder und Sie Gewalt erlebt?

Sylvia K.: Der damalige Heimleiter war ein Bilderbuch-Nazi. Er zertrat meinen am Boden liegenden Bruder vor meinen Augen. Er hat sich davon nie erholt. Ich habe die Bilder aus diesem Heim, in dem ich vom 5. bis zum 10. Lebensjahr war, noch heute vor Augen. Doch auf die grauenhaften Geschehnisse und meine persönlichen Erlebnisse möchte ich nicht eingehen.

Worüber möchten Sie denn sprechen?

Sylvia K.: Über die Nachwirkungen. Zum einen, das weiß ich heute, hat das Selbstwertgefühl gelitten - bis hin zu Selbstmordgedanken. Man hat uns sozialisiert wie einen südeuropäischen Straßenköter, der in der Rangordnung ganz unten stehend nur noch um Gnade winselt, damit er nicht geschlagen wird. Eins habe ich immer gefürchtet: den Verlust meiner Freiheit und abhängig zu werden von anderen Menschen. Ich war gebrandmarkt. Egal, was ich tat oder wo ich war, ich blieb das Heimkind, das sich schämt, weil es nicht wie die anderen war.

Aus Ihrem Lebenslauf weiß ich aber, dass Sie Abitur gemacht und studiert haben.

Sylvia K.: Stimmt. Das habe ich meiner kämpferischen Mutter zu verdanken und meinem Vorsatz, dass ich nie wieder etwas mit sozialem Elend zu tun haben will. Ich habe Geologie und Geografie studiert. Ich lernte fliegen, war Stadtplanerin, lernte als TV-Autorin die Welt kennen, mal verdiente ich gut, mal krebste ich rum.

Folge 2

Das Schicksal der Sylvia K. II

9. Februar 2010
Dann ist der Sohn weg

„Mal verdiente ich gut, mal krebste ich herum“, beschreibt Sylvia K. (Name geändert) ihr bisheriges Leben, Stadtplanerin sei sie gewesen, TV-Autorin, sie habe die Welt gesehen und immer eins gefürchtet: den Verlust ihrer Freiheit. Denn: Sozialisiert worden sei sie wie „ein südeuropäischer Straßenköter - ohne die Hunde herunterputzen zu wollen“ in einem Kinderheim in Nordhessen. Welche Folgen diese Heimerziehung habe, das wolle sie erzählen. Die 53-Jährige lebt im Ausland, nach Deutschland zurückkehren will sie nicht. Ihr Sohn ist 13.

Sie haben einen Sohn und sind alleinerziehend?

Sylvia K.: Ja. Dass ich alleinerziehend bin, wäre auch nicht weiter dramatisch gewesen, wenn mein Sohn nicht schon sehr früh an einer schweren Neurodermitis erkrankt wäre, der später noch Asthma bronchiale folgte, obwohl wir so lebten wie es gesund sein soll: ländlich. Wir hatten zwei Pferde und einen großen Hund, zwei Hektar Weideland, einen Wald, einen Fluss, Nachbarskinder. Es war die Idylle schlechthin. Doch an Schlaf war in der Nacht bei der Krankheit meines Sohnes nicht zu denken. Ich konnte bald nicht mehr nebenbei arbeiten und der Vater meines heute 13-jährigen Sohnes wollte uns nicht unterstützen. Den  Gang zum Sozialamt scheute ich aus bekannten Gründen. Wir schlugen uns durch, bis der Bauernhof verkauft werden sollte.

Irgendwie fehlt jetzt das Jugendamt, das immer irgendwann auftaucht, wenn ein Problem gewittert wird.

Sylvia K.: Sie scheinen sich da auszukennen. Nach einer Klimakur, bei der mein Sohn völlig gesund wurde, wohnten wir vorübergehend in dem Haus eines Studienfreundes. Der war als Pilot viel unterwegs. Eines Tages stand eine gräßliche Frau vom Jugendamt vor der Tür und erklärte mich in 20 Minuten für erziehungsfähig. Der Vater meines Sohnes hatte inzwischen geheiratet und seine Frau suchte ein Pflegekind. Was lag da näher als meinen Sohn ins Auge zu fassen?

Wann war das?

Sylvia K.: An einem schönen Augusttag des Jahres 2002. Was nun geschah, spiegelte die ganzen Schikanen aus meiner Zeit als Heimkind wider. Und ich stellte fest, dass die Menschenverachtung und Herabsetzung durch gewisse Sozialarbeiter sich nicht geändert hatte. Allerdings will ich nicht in Abrede stellen, dass es auch andere gibt.


Was geschah mit Ihrem Sohn? Wurde er Ihnen weggenommen?

Sylvia K.: Mein Sohn wurde von den um das Kindeswohl Bemühten heruntergeputzt. Man schilderte ihn als verhaltensgestört. Und das drohte er auch zu werden. Denn er verstand nicht, warum er nicht mehr bei mir leben durfte.

Fast zwei Jahre focht ich einen aussichtslosen Kampf. Längst hatte ich alle Rechte an meinem Sohn verloren, das Umgangsrecht war ein stundenweises Besuchsrecht unter Aufsicht geworden. Das Gutachten im Rahmen eines absurden Sorgerechtsstreits war ein reines Gefälligkeitsgutachten, die Willkür fiel sogar Laien auf. Es kam dann sogar zu einem Ermittlungsverfahren gegen die Gutachterin. Doch es verlief im Sande.

Folge 3

Das Schicksal der Sylvia K. (III)

18. Februar 2010
"Kinderheim-Geruch haftet an mir"

„Mal verdiente ich gut, mal krebste ich herum“, beschreibt Sylvia K. (Name geändert) ihr bisheriges Leben, Stadtplanerin sei sie gewesen, TV-Autorin, sie habe die Welt gesehen und immer eins gefürchtet: den Verlust ihrer Freiheit. Denn: Sozialisiert worden sei sie wie „ein südeuropäischer Straßenköter - ohne die Hunde herunterputzen zu wollen“ in einem Kinderheim in Nordhessen. Welche Folgen diese Heimerziehung habe, das wolle sie erzählen. Die 53-Jährige lebt im Ausland, nach Deutschland zurückkehren will sie nicht. Ihr Sohn ist 13.


Heute lebt Ihr Sohn bei Ihnen. Haben Sie das Sorgerecht wieder bekommen?
 
Sylvia K.: Nein. Ich habe schon bald geahnt, dass uns nur noch die Flucht blieb. Denn der Vater hatte längst den Spaß an einem Kind verloren. Nach den Jahren des Alleinerziehens und nach dem Rechtsstreit war ich pleite. Also klaute ich am 2. Oktober 2004 meinen Sohn und floh mit ihm ins entfernte Portugal.
 
Dort sind Sie aber nicht lange mit Ihrem Sohn geblieben?
 
Sylvia K.: Seit Sommer 2005 leben wir der Sprache wegen in einer deutschsprachigen Gemeinschaft eines Nachbarlandes von Deutschland. Mein Sohn kann hier zur Schule gehen. Die jahrelange Angst im Nacken, entdeckt zu werden, immer ausgebeutet zu sein, immer in der Ungewissheit zu leben, wovon ich die Miete bezahlen soll, hat mich ziemlich mürbe gemacht. Jetzt, während ich meine Geschichte in Kurzform erzähle, mich dabei zurück erinnere, kommen erneut Wut und Verzweiflung gleichermaßen in mir hoch. 
 
Müssen Sie immer noch Angst haben?
 
Sylvia K.: Seit ein paar Wochen weiß ich, dass wir nicht mehr gesucht werden. Nach langem Bitten zog der Vater seine Anzeige zurück. Doch ich musste ihm zusichern, dass ich keine finanziellen Ansprüche stelle. Er hat nach wie vor das alleinige Sorgerecht, ist aber damit einverstanden, dass unser Sohn bei mir lebt.
 
Dennoch ist eine Rückkehr nach Deutschland ausgeschlossen?
 
Sylvia K.: Wir können nicht nach Deutschland zurück, weil dann die Behörden meinen Sohn ergreifen würden, da der Vater wieder geschieden ist. Mein Sohn will auch nicht zu ihm. Er würde dann vermutlich wie einst geplant fremd untergebracht werden. Für einen neuen langwierigen Rechtsstreit habe ich aktuell weder die Nerven noch das Geld. Vor allem aber will ich das meinem Sohn nicht zumuten. Er soll nicht mein Trauma bekommen. Darüber hinaus möchte ich auch nicht nach Deutschland zurück.
 
Meine Geschichte, meine Erlebnisse mit den Sorgerechtsbehörden haben mir auf erschreckende Weise gezeigt, welch abscheuliche Willkür und Menschenverachtung noch immer hinter den Kulissen herrschen. Ich könnte jetzt ein paar O-Töne zum Besten geben. Unser Fall hatte bisweilen kafkaeske Züge.
 
Mein Lebtag hatte ich das Gefühl, der Geruch des Kinderheimes haftet immer noch an mir.
 

Mittwoch, 13. Januar 2010

Dialog mit Rundem Tisch

15. Dezember 2008
Dr. Antje Vollmer
Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages a. D.
Platz der Republik 1
11011 Berlin


Herrn
Heinz-Peter Tjaden
Krumme Straße 1
26384 Wilhelmshaven

15. Dezember 2008

Sehr geehrter Herr Tjaden,

Hiermit möchte ich Ihnen umgehend mitteilen, dass ich Ihre Zuschrift gelesen habe und Sie bitten, alles was Sie für die Arbeit des Ausschusses aus Ihrer eigenen Erfahrungen wichtig finden, mir zuzusenden.

Sicher würde es meine Möglichkeiten bei Weitem übersteigen, für jeden Einzelfall eine gute Lösung zu finden. Aber den Betroffenen mit offenen Ohren ausführlich zuzuhören, ist der erste Schritt, dem wir uns verpflichtet haben. Die Arbeit des Runden Tisches wird beginnen, sobald alle Institutionen, die daran teilnehmen werden, ihre Vertreter benannt haben. Ich hoffe, dass das recht früh im Jahre 2009 möglich sein wird und danke Ihnen für Ihr Interesse.

Sehr geehrte Frau Dr. Vollmer,

„Sie erlebten brutale Gewalt“, hat die „Neue Westfälische“ am 3. März 2009 ein Interview mit Ihnen abgedruckt. Verwiesen wird auf schlimme Zustände in Kinderheimen „bis in die 1970er-Jahre“. Damit beschäftigt sich auch der im Dezember vorigen Jahres eingerichtete „Runde Tisch“ des Deutschen Bundestages. Sie haben die Aufgabe übernommen, zwischen „Tätern und Opfern zu vermitteln“.

In einem Brief vom 15. Dezember 2008 baten Sie mich, Ihnen Informationen zukommen zu lassen, die ich für wichtig halte. Wie Sie wissen, beschäftige ich mich seit über einem Jahr als Redakteur mit diesem Thema.

Besonders erschreckend muss es bis Anfang der 1970er-Jahre in einem Kinderheim zugegangen sein, das sich in Holzen (Landkreis Holzminden) befunden hat. Doch alle Opfer, mit denen ein Kollege und ich gesprochen haben, erklärten, dass sie auf eine Entschädigung verzichten. Begründung: „Was uns die Kirche angetan hat, kann niemand mehr gut machen.“

Das ist für mich ein weiterer Beweis dafür, wie schwer die Aufarbeitung sein wird. Doch sie könnte noch schwerer werden. Denn Misshandlungen und sexuellen Missbrauch hat es offenbar auch in den 1980er-Jahren gegeben. Dabei geht es um ein Internat, das es bis 1987 im Schloss Eringerfeld gegeben hat.

Im Internet findet man sogar den Namen des vermeintlichen Peinigers. Ich hoffe, dass auch Sie solche Quellen nutzen. Meine kennen Sie ja: http://bundestagsausschuss.blogspot.com

16. März 2009
Sehr geehrter Herr Tjaden,

vielen Dank für die Zusendung Ihrer Mail und den Hinweis auf das Heim in Holzen. Ihre Anregung, das Thema des Runden Tisches auszuweiten (auf die Zeit der 80er Jahre) ist sehr verständlich und wichtig, nur leider ist das Thema vom Petitionsausschuss so vorgegeben worden.

Ich kann Ihnen aber auch versichern, schon jetzt erreicht uns eine solche Flut von Zuschriften und Anregungen, dass wir ein weiter gestecktes Thema nicht bewältigen könnten. Es wäre auch nicht zu schaffen. Wir bitten Sie herzlich um Verständnis.

Mit freundlichen Grüßen

Antje Vollmer

13. Januar 2010
Mail aus El Salvador

Sehr geehrter Herr Tjaden,


wie ich im Internet lesen konnte, wurde vor einiger Zeit ein "Runder Tisch" unter der Leitung von Fr. Dr. Vollmer eingerichtet, der die zum Teil unvorstellbaren "Behandlungsmethoden" in katholischen Heimen untersuchen soll.

Ich selber, Jahrgang 46, männlich, gehöre zu der Gruppe der Leidgeprüften. Zunächst aufgewachsen im erzbischöflichem Waisenhaus in Paderborn, später in einem Heim der "Schwestern der christlichen Liebe" in Höxter. Nicht nur menschenverachtende "Strafen" waren häufig an der Tagesordnung, sondern auch sexuelle Misshandlungen, wobei sich die Schwestern aus meiner Sicht oft noch schlimmer benommen haben als die Priester. Habe selber Mitte der 90er das Waisenhaus in Paderborn aufgesucht. Dort wurde mit allerdings mitgeteilt, dass alle Unterlagen vernichtet seien.

Leider habe ich im Netz keine Mail-Anschrift des "Runden Tisch" finden können. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir diese zukommen lassen könnten.

Mit freundlichen Grüßen
Peter Schild
Sonsonate
El Salvador

PS.: Sie dürfen diese Mail auch gerne gleich an die entsprechende Einrichtung weiterleiten.

Antje Vollmer hat diese mail von mir bekommen. - tj -